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KitzRace

In der Sekunde des Starts mittendrin

Seit rund siebzig Jahren wagen Rennläufer den Sprung vom Starthaus auf die Streif. In diesem Rennanzug steckte Mitte der 1980er-Jahre vermutlich der Schweizer Pirmin Zurbriggen.

Chronologie
des Starthauses

1946 – zu sport­lichen Zwecken 
Der K.S.C. erhält vom Bürgermeister die Erlaubnis, die Luftwaffenbaracke „Vogelbeere“, die im Zweiten Weltkrieg der Warnung vor Luftangriffen diente, „rein zu sportlichen Zwecken“ zu nutzen. Die kleine Hütte ist fortan Lager und Startpunkt. Davor wärmen sich die Sportler in „Lis Mams Hahnenkamm Buffet“ auf, mit Tee und manchmal auch mit einem Schnaps zur Nervenberuhigung.

Spricht man vom Mythos Kitzbühel, dann denkt man zuerst an die Streif. Wer sich vom Starthaus auf dielegendäre Strecke hinunterstürzt, den erwartet eine Abfahrt der Extreme. Das flößt allen gehörigen Respekt ein, und doch reagiert jeder Athlet anders, meint Michael Huber, Präsident des Kitzbüheler Ski Clubs (K.S.C.) und Chef des Organisationskomitees Hahnenkamm-Rennen.

Der Italiener Kristian Ghedina „plauderte und plapperte bis fünf Minuten vor dem Start“ gerade so, als ob er selbst gar nicht starten müsste – kein Wunder bei einem, der wegen einer Wette um eine Pizza und ein Bier im Zielsprung die Grätsche wagte. Fotos aus der Saison 1982/83 zeigen Franz Klammer und Leonhard Stock, wie sie sich die Wartezeit bis zum Start mit Kartenspielen verkürzen.

Andere Sportler, erzählt Huber, dürfe man eine Stunde vor dem Start kaum ansprechen, so sehr seien sie in ihre Konzentration versunken. Dabei gelingt manchen die Entspannung erstaunlich gut, wie einst den zwei Italienern Stefano Anzi und Giuliano Besson, die beim Meditieren einschliefen.

„Das will ich auch“
Kaum vorstellbar, dass das dem Liechtensteiner Marco Büchel passiert wäre. Den Riesentorlauf-Spezialisten packte beim Zuschauen im Zielraum 1999 das Streif-Fieber. „Ich wollte mir das Rennen einfach ansehen und auf gar keinen Fall selbst fahren. Ich dachte: ‚Ich bin zwar verrückt, aber nicht dumm.‘ Und dann war ich da unten im Ziel und wusste: ‚Das will ich auch.‘“ Ein Jahr später stand Büchel beim Abfahrtstraining selbst „mit zitternden Knien“ erstmals am Start, hörte einen Zuschauer rufen: „Schau dir den an, der ist ja ganz bleich!“, und ließ sich trotzdem auf den Höllenritt Streif ein.

Locker bleiben

Die Wartezeit vor dem Start verkürzten sich Franz Klammer (l.) und Leonhard Stock (r.) 1983 beim Kartenspiel. Wer die Partie gewann, ist nicht überliefert. Klammers vierter Abfahrtssieg folgte ein Jahr später: „Am Start habe ich gewusst, ich werde das gewinnen. Das habe ich ohne Zögern durchgezogen“, erzählte er später dem Standard. „Die Leute sind aus dem Häusl gewesen, ich selber war im siebenten Himmel.“

Steiler Start
Warum aber verlangt ausgerechnet dieser Start Abfahrtsläufern so viel ab? Auch andere Speed-Rennen bergen ein hohes Risiko, sind besonders schwierig zufahren oder für Extreme anderer Art berühmt. Die Saslong-Abfahrt in Gröden wartet mit waghalsigen Sprüngen auf, die Kandahar-Piste in Garmisch-Partenkirchen hat den „freien Fall“ – einen Streckenabschnitt mit 92 % Gefälle – und am Lauberhorn in Wengen ist die Durchschnittsgeschwindigkeit am höchsten. Am Start sei Wengen aber konträr zu Kitzbühel, befindet Marco Büchel: „Es geht dort relativ flach weg, es ist sonnig, man kann seinen Rhythmus finden und sich eingewöhnen. Kitzbühel ist dunkel, schattig, steil und eisig. Man stößt sich ab und ist in derselben Sekunde mittendrin. Das ist den Athleten mehr als bewusst.“

Jubel statt Wildnis
Aktive Rennläufer haben ihre Routine, auf die sie zurückgreifen können: Aufwärmübungen, um körperlich und mental fit und inmitten des Rummels von Kitzbühel konzentriert zu sein. Matthias Mayer, Super-G-Sieger von 2017 und Abfahrtssieger von 2020, verweist auf die unterschiedlichen Rahmenbedingungen. Während rund ums Starthaus und die temporär aufgebaute Red Bull Energy Station, wo sich die Läufer vorbereiten, reger Publikumsbetrieb herrscht, liegt beispielsweise das Starthäuschen in Lake Louise „mehr oder weniger allein in der Wildnis“. Im Inneren des Streif-Starthauses hat man zudem die Erfolge früherer Sieger vor Augen, die Legende wird hier mit Fotos und anderen Erinnerungsstücken zelebriert.

Ein Kitzbüheler auf der Streif
Ein Stockerlplatz in der Abfahrt blieb Ernst Hinterseer (rechts im Bild) zwar verwehrt, dafür sammelte er ab 1954 aber zweite und dritte Plätze in Slalom, Riesenslalom und Kombination.

Noch einmal Franz Klammer
1975, 1976, 1977 und dann wieder 1984 (Bild) hieß der Abfahrtssieger Franz Klammer. Ein Import aus Frankreich, der Staketenzaun, schützte damals die Rennläufer bei Stürzen und hielt die Zuschauer von der Piste fern. Insgesamt 20 km Zaun lagerten übers Jahr im Starthaus und in Materialhütten an der Strecke.


„Ma, geil!“

Für Werner Franz, einst Weltcup-Abfahrtsläufer und heutiger Speed-Trainer der Speed-Ski-Mannschaft 2 des ÖSV, ist die Streif die aufregendste Abfahrt der Welt.

Warum hebt sich der Start auf die Streif von den Starts anderer Abfahrten ab?

Werner Franz: Die Aussicht von dort oben ist wunderbar, aber wenn es ums Rennen geht, dann ist es vor allem sehr steil. Man hat schnell eine hohe Geschwindigkeit und ist vom Start weg sehr gefordert.

Was ist aufregender: als Athlet dabei zu sein oder als Trainer?

(lacht) Auf alle Fälle als Athlet. Aber man hat auch als Trainer das gleiche Gefühl – das hätte ich mir früher nicht vorstellen können. Die Adrenalinausschüttung ist also bei Betreuern und Athleten hoch, deshalb ist es sehr ruhig im Starthaus. Bei anderen Starts ist es oft auch lustig. Man macht ein paar Schmähs, um die Zeit zu überbrücken, aber das ist in Kitzbühel schwer möglich.

Am Start der Streif gibt es immer viele Fans, die schon auf die Fahrer warten. Irritiert das eher oder ist es eine Motivation?

Irritiert hat mich das überhaupt nicht, ich habe das richtig toll gefunden. Einmal bin ich am Vortag bei der Sprintabfahrt Zweiter geworden. Bei der klassischen Abfahrt haben die Zuschauer am Start so laut hereingeschrien, dass ich den Starter gar nicht mehr gehört habe. Ich habe nur auf die Uhr geschaut, bis ich starten konnte, bin Richtung Mausefalle geschossen, und habe mir in dem Moment gedacht: Ma, ist das geil! Ich glaube, das geht allen Athleten so.

Sie sind von 1991 bis 2005 auf der Streif gestartet. Welche Fahrt ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?

Das war, als Fritz Strobl und ich das erste Mal zusammen in Kitzbühel waren. Hansi Hinterseer, damals Kommentator beim ORF, hat zu uns gesagt: „Wenn man vom Start Richtung Mausefalle hinunterschaut, das ist halb so wild. Ihr dürft nur nicht zur Mausefalle gehen und dort den Topathleten zusehen.“ Natürlich haben wir genau das gemacht und sind sehr nervös geworden. Beim Start – ich hatte die Nummer 55 oder 60 – habe ich dann auch noch dem Läufer vor mir nachgeschaut, den es ziemlich verzogen hat. Ich hatte dann ganz schön zu tun, dass ich über die Mausefalle hinuntergekommen bin. Mit der Zeit freundet man sich mit der Abfahrt aber an, und es sind ganz gute Ergebnisse herausgekommen.

Vielen Dank für das Gespräch.


1996 – Öffnung für alle

Äußerlich einem Unterstand für Jungvieh auf der Alm ähnlich und mit rot-weiß-roten Fensterläden geschmückt, beherbergt die Hütte nun einen Warteraum und eine größere Küche. Der separate Startraum wird mit Informationstafeln ausgestattet und im Sommer auch für das Publikum geöffnet.

1 + 5 Siege
2001 gewann Hermann Maier die Abfahrt auf der Streif, im Super-G gelangen ihm sogar fünf Siege,
der emotionalste 2003, 17 Monate nach seinem Motorradunfall. Beim Super-G liegt der Start etwa
300 Höhenmeter unterhalb des Starthauses.

Mit Hightech und Charme
Bei aller Hightech-Ausrüstung war es Michael Huber und Jan Überall wichtig, den Bestandsbau und den alpinen Charakter des Hauses zu erhalten. Das Dach wurde abgetragen, eine neue Decke eingezogen und oben ein Versammlungsraum für den K.S.C. mit Terrasse eingerichtet. Formal orientiert sich der Bau nicht mehr an klassischen Almhütten und Unterständen, sondern an den von Alfons Walde entworfenen Bauten der Hahnenkamm-Bergbahn. Architekt Michael Egger ließ dazu das Pultdach der Hanglinie folgen, das obere Stockwerk über das untere auskragen und die Fassade mit Lärchenschindeln verkleiden. Im Startraum selbst wecken schlichte Latten an Wänden und Decke Erinnerungen an die frühere Holzhütte mit Giebeldach.

Pure Emotion
Zusammen mit der Energy Station nebenan finden Athleten und Betreuer somit beste Bedingungen am Start vor. Und im Ziel? Da herrscht pures Hochgefühl, vor allem wenn man wie Matthias Mayer als Sieger ins Ziel gekommen ist: „Das ist das Größte, was man als Athlet durchleben darf. Es ist eine Befreiung, eine Freude und sicherlich etwas ganz Gewaltiges!“

2021 – von der
Hütte zum Haus

Durch die Generalsanierung des Bestands und die Erweiterung um ein Stockwerk wird aus der Hütte ein Haus. Im Obergeschoss plant Architekt Michael Egger einen Versammlungsraum für den K.S.C. für ca. sechzig Personen. Hier findet u. a. die Verleihung der Gondeln an die Kitzbühel-Sieger statt. Im Startraum können Besucher im Sommer selbst einen Eindruck vom schwindelerregenden Blick auf die Streif bekommen und ihr Wissen zu den Skilegenden von Kitzbühel auffrischen.

Komfort und Action
Das Starthaus der Streif (r.) bietet Rennläufern, Betreuern und K.S.C.-Mitgliedern mehr Komfort denn je. Jubelnde Fans rund um Starthaus und Energy Station (l.) gehören zum Kitzbühel-Feeling dazu.

Foto: Werek / Süddeutsche Zeitung Photo, Stefan Zauner, K.S.C. / Bodenseer, EXPA pictures, Herbert Neubauer / APA / picturedesk.com, K.S.C. / Ulli Dorner, Mathias Kniepeiss