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Interview

Von 100 auf null und wieder zurück

Seine Karriere lehrte Daniel Albrecht die wichtigste Lektion seines Lebens: „Never give up.“ Die zentrale Rolle darin spielt der Sturz, den er beim Training in Kitzbühel 2009 erlitt – und nach dem er wieder aufstehen musste. 

Daniel Albrecht

2009 war Daniel Albrecht einer der vielversprechendsten Skirennfahrer der Welt. Beim Training, einen Tag vor dem Hahnenkamm-Rennen, erlitt er einen schweren Sturz. 

Wenn Sie heute an dieses Ereignis 2009 zurückdenken, was geht Ihnen durch den Kopf?
Es war natürlich ein absoluter Wendepunkt in meinem Leben. Ich war gerade dabei, sportlich meinen Zenit zu erreichen und reiste sehr hungrig nach Kitzbühel. Ich war topfit. Mein Training war ausgewogen, mein Material perfekt auf mich zugeschnitten, konditionell habe ich nie bessere Leistungen vollbracht, die Stimmung unter uns Athleten war super, im Speziellen in unserem Team. Noch dazu ging es um Kitzbühel. Ich brauche niemandem zu erklären, welche Bedeutung das Rennen für jeden Skirennfahrer hat. Dort einmal zu gewinnen, heißt im Grunde automatisch, Legendenstatus zu erreichen. Aber die Abfahrt lag mir sehr. Denn auch wenn sie großteils technisch nicht sehr anspruchsvoll war, konnte man mit dem einen oder anderen technischen Trick an vielen Stellen das Tempo mitnehmen, Geschwindigkeit aufbauen und den Wettkampf für sich entscheiden – und genau das wollte ich: Ich wollte gewinnen. 

Hätten Sie gewonnen?
Darüber habe ich wirklich sehr oft nachgedacht und so ganz losgelassen hat es mich nie. Ich habe mir meine Trainingsfahrten in Kitzbühel später auf Band angesehen und war überrascht, wie flott ich da unterwegs war. Eigentlich war ich bekannt als Athlet, der beim Training eher langsam macht. 

Ich erkläre mir das so: Ich wollte sehen, was möglich war, ohne alle meine Geheimnisse zu verraten. Meine Form hatte da einfach einen Höhepunkt erreicht. Das hat sich schon beim Saisonauftakt in Sölden abgezeichnet – dort ging ich zum ersten Mal mit neuem Material auf die Piste und gewann, obwohl ich nicht einmal mein ganzes Können in die Schwünge legte. Um ehrlich zu sein, machte mich diese Lockerheit fast ein bisschen nervös. Gefreut hab ich mich über den Sieg natürlich trotzdem – und war dann umso heißer auf die Streif.

Aber Hahnenkamm ist Hahnenkamm. Glauben Sie, Sie hätten die Leistung auch dort abrufen können?
Ich glaube schon. Es gibt am Hahnenkamm zwei, drei technische Passagen, die perfekt sein müssen, um Tempo in die flacheren Abschnitte mitzunehmen. Bei der Einfahrt in den Steilhang zum Beispiel machen viele den Fehler, etwas zu hoch hinaufzufahren, um danach mehr Richtung zu haben – ich hingegen wusste, dass ich den Radius da eng fahren muss, um nicht langsamer zu werden. Ich nahm mir vor, beim Rennen ganz direkt hineinzuziehen, und musste dann nur schauen, dass es sich bis zur nächsten Kurve ausgeht. 

Dann gibt es da noch das Tor kurz vor der Einfahrt in die Zieltraverse. Da fährt man eigentlich etwas runder – das sieht nicht nur gut für die Kameras aus, es fühlt sich auch gut an. Nur Didi Cuche fuhr da sehr direkt und ruppig. Ich hab ihn damals gefragt, warum er das macht, was das eigentlich soll. Und er meinte, dass das eines der wichtigsten Tore ist, das aber keiner sieht, und dass man da frech reinfahren muss, sonst verliert man Zeit. Ich war also nicht nur gut in Form, sondern kannte auch die Strecke sehr gut. 

Wie kam es dann zu Ihrem Sturz?
Das war eine Verkettung unglücklicher Umstände. Zuerst einmal hatte ich eine sehr niedrige Startnummer erwischt und die Wetterverhältnisse am besagten Tag waren auch viel schlechter als zuvor. Dann gab es einige Besonderheiten auf der Zielpassage: Die Sprungstelle war in diesem Jahr 10 oder 20 Meter weiter nach hinten versetzt – das war ziemlich mutig. Selbst Didi Cuche, der weiß Gott keine großen Probleme mit Sprüngen hatte, meinte, dass das kaum machbar ist bei dem Tempo. Sie flachten den Absprung also etwas ab – nur brachte mir das nichts: Auf meiner idealen Linie fuhr ich an der Stelle 1 bis 2 Meter weiter rechts, dort war der Absprung nicht abgeflacht. Der Trainer gab uns außerdem den Rat, den Sprung gut zu drücken. Und so geschah es dann: Eine Bodenwelle trieb mich nach oben, der Windschlag richtete meinen Oberkörper auf und bei 140 Kilometern pro Stunde samt Gegenwind wusste ich, dass nichts mehr zu machen war. 

Können Sie sich an den Sturz erinnern?
Nein, an den ganzen Tag des Unfalls nicht. Ich hab mir aber nach meiner Entlassung vom Schweizer Fernsehen den Sturz aus allen Perspektiven zusammenschneiden lassen und hab mir das Video wirklich unzählige Male angesehen. Deswegen weiß ich genau, was da passiert ist. 

Wie war es, sich selbst stürzen zu sehen?
Ich musste zuerst realisieren, dass ich diese Person auf dem Video bin. Normalerweise ist es so, dass man bei Menschen mitleidet, die man stürzen sieht, vor allem, wenn es Sportsfreunde sind. Bei mir selber habe ich aber rein gar nichts gefühlt. Das ist ein psychischer Selbstschutz, vermute ich. 

Ich sehe auf dem Video aber, dass ich in der Luft versuche, den Ski von meinem rechten Bein noch abzustoßen, um ein bisschen Gegenbewegung zu erhalten. Ich schaff es aber nicht und sehe dann, wie ich denke: Jetzt bist du am Arsch. Es würde mich interessieren, wie viele Gedanken mir in dem Moment sonst so durch den Kopf schossen. 

Der Moment, der Daniel Albrecht von 100 auf null katapultiert und der einen Wendpunkt in seinem Leben markiert: „Es würde mich interessieren, wie viele Gedanken mir in dem Moment durch den Kopf schossen.“

„Mein Training war ausgewogen, mein Material perfekt auf mich zugeschnitten, konditionell habe ich nie bessere Leistungen vollbracht, die Stimmung unter uns Athleten war super, im Speziellen in meinem Team. Noch dazu ging es um Kitzbühel. Ich brauche niemandem zu erklären, welche Bedeutung das Rennen für jeden Skirennfahrer hat. Dort einmal zu gewinnen, bedeutet im Grunde automatisch, Legendenstatus zu erreichen.“ – Daniel Albrecht

„Leider habe ich erst viele Jahre später begriffen, dass ich viel mehr selbst hätte entscheiden müssen, wo meine Grenzen sind und was sie für mich bedeuten.“

Aus einer Skifahrerfamilie kommt Daniel Albrecht nicht – dass er also Skifahrer geworden ist, war ihm nicht in die Wiege gelegt. Als aber sein älterer Bruder im Alter von vier Jahren Ski zu Weihnachten geschenkt bekam, war es um den damals zweijährigen Daniel geschehen. Er verbrachte fortan jede Minute, die er konnte, auf der Piste. Als seine Lehrerin ihn im Alter von 13 fragte, was er später werden wollte, war für ihn die Sache klar: „Ich will Skirennfahrer werden.“ Und er blieb dabei auch entgegen den Beteuerungen der Lehrerin, dass das kein richtiger Beruf sei – weil man den nicht erlernen könnte. Daniel recherchierte und erfuhr vom Skigymnasium in Stams in Tirol. 

Wie haben Sie die Zeit in Stams in Erinnerung?
Ich kam aus dem Wallis in der Schweiz und wurde sprachlich nicht verstanden. Dann kam auch noch die andere Mentalität dazu: Was in der Schweiz lustig war, war in Tirol nicht lustig und umgekehrt. Außerdem war ich den Buben da körperlich unterlegen. Vor allem im ersten Jahr hatte ich furchtbares Heimweh. Das Einzige, was mich dort gehalten hat, war meine Liebe zum Skifahren und die Aussicht, einmal davon leben und bei den großen Rennen mitfahren zu können. Das gab mir die Kraft, alle Strapazen durchzustehen. Mit jedem Jahr ging es dann auch besser. Ich lernte mit dem Druck umzugehen und schloss die Schule mit einer ziemlich dicken Haut ab. 

Hat die Skischule Sie zu dem mental starken Skirennfahrer gemacht, als der Sie später bekannt waren?
Das ist ein bisschen die Henne-Ei-Frage: Bin ich Skirennfahrer geworden, weil ich die Stärke in mir gespürt habe, oder habe ich gelernt, stark zu sein, weil ich es brauchte, um Skirennfahrer zu werden? Meine Grundeinstellung war jedenfalls immer, dass ich das, was ich mache, mit Lockerheit mache. Ich hatte auch den Vorteil, dass meine Eltern ein Restaurant führten – da lernt man früh, selbstständiger zu leben und auf sich selbst zu hören. Ich wusste, was ich wollte und was mein Körper kann, und habe mich daran orientiert. Wenn mir dann ein Trainer gesagt hat, ich solle dieses oder jenes machen, und ich nicht verstehen konnte, wieso, dann habe ich das abgelehnt. Dabei konnte ich auch ziemlich konfrontativ sein. 

War das auf dem Weg zum Profi nicht auch ein Hindernis?
Ich lernte mit der Zeit, meine Methoden anzupassen. Das Konfrontative legte ich ab und ging dazu über, meine Ziele so zu erreichen, dass ich jenen, die die Entscheidungen trafen, versuchte, das Gefühl zu geben, sie seien selbst darauf gekommen. So kam ich ins Schweizer Team, so kam ich zu meinem ersten Weltcup im Slalom, so machte ich von mir reden und konnte meine Ziele erreichen. 

Sie gingen die Profikarriere also mit Selbstbewusstsein an?
Ja, aber nicht nur: Ich war stets bemüht, mich zu verbessern, wo ich nur konnte. Immer, wenn ich selbst entschieden habe, wie und was, bin ich am weitesten gekommen. Wenn mir andere ihre Meinungen gesagt und Tipps gegeben haben, funktionierte es nicht – leider habe ich erst viele Jahre später begriffen, dass ich viel mehr selbst hätte entscheiden müssen, wo meine Grenzen sind und was sie für mich bedeuten. 

Gab es nie Mentoren in Ihrer Karriere, die Ihnen wertvolle Tipps gaben?
Doch schon, nur viel weniger als man meinen würde. Ich hatte das Glück, Karl Frehsner kennenzulernen, der auch verantwortlich war, dass ich als junger Athlet gefördert wurde. Er sah einen wirklich als Athleten an und wusste genau, was man hören musste, um besser zu werden. Seine technischen Korrekturen waren nicht wirklich lupenrein, aber sie halfen einem, schneller und besser zu werden und auch Selbstvertrauen zu schöpfen. 

Wie gingen Sie mit Ihren ersten Erfolgen um?
Ich konnte sehr gut mit Erfolg umgehen. Schließlich signalisierte er allen anderen, dass ich schon wüsste, was ich tat, und ich bekam mehr Freiheiten und vor allem mehr Möglichkeiten. Nach den Juniorenweltmeisterschaften kam der Europacup, dann musste ich schauen, ins Weltcup-Team zu kommen. Ich kletterte diese Leiter hoch, indem ich mich selbst stets verbessert habe und das gleichzeitig alle anderen wissen ließ. Es gab einen Kampf, den ich nach innen führte, in dem ich alles tat, um fitter und besser zu werden, und einen nach außen, in dem ich alle Verantwortlichen zu überzeugen versuchte, dass ich die richtige Wahl sei. 

Mit Anfang zwanzig kamen die ersten großen Erfolge: Weltcupsiege, Weltmeistertitel. Atomic meldete sich, als ich 24 war, und wollte in Absprache mit mir Materialänderungen vornehmen – ich hatte ein super Team um mich herum, gutes Material, war selbst topfit und gewann das Rennen in Sölden, ohne alle Register ziehen zu müssen. Und dann kam Kitzbühel. 

Daniel Albrecht ist ehemaliger Schweizer Skirennfahrer. 2003 konnte er sich gleich dreimal zum Juniorenweltmeister und einmal zum Vizejuniorenweltmeister küren lassen, 2007 wurde er Weltmeister in der Superkombination, Vizeweltmeister im Slalom und erreichte im Teambewerb den dritten Platz. Im selben Jahr und im Jahr darauf sicherte er sich acht Podestplätze bei Weltcuprennen – viermal stand er ganz oben. Nach seinem Sturz beim Training auf der Streif 2009 versuchte er ein Comeback an die Weltspitze, erklärte aber 2012 nach einem weiteren Unfall in Lake Louise seinen Rücktritt. Er ist Familienvater und Geschäftsführer von Mondhaus – einem Unternehmen, das sich auf den nachhaltigen Bau von Häusern spezialisiert hat. 

Beim Sturz am 22. Jänner 2009 erlitt Daniel Albrecht ein Schädel-Hirn-Trauma. Am 12. Feber erwachte er aus dem Koma und wurde nach Bern verlegt. Wenige Tage nach seiner Entlassung Ende April 2009 stand er wieder auf Skiern – und schon im Juli begann er die Vorbereitungen für die folgende Weltcup-Saison.

Was ist das Erste, an das Sie sich nach Ihrem Sturz erinnern?
Die Lichter im Spital in Bern. Ich wurde von der Intensivstation in die Neurochirurgie gebracht und sah die Lichter im Gang über mir und sie erinnerten mich an den Tunnel am Matterhorn, den man zu Fuß passieren muss, um am Zermatt Ski zu fahren. Ich dachte mir: Seit wann gibt es denn ein Taxi, das einen da hochfährt? 

Skifahren scheint also sehr stark in meinem Unterbewusstsein verankert gewesen zu sein, ohne dass ich wusste, dass ich Skirennfahrer war. Als ich das erfahren habe und als man mir vom Unfall erzählte, wollte ich als Allererstes sehen, was da passiert ist, und dann so schnell es geht wieder auf die Piste. 

Wie ging es dann weiter?
Ich stand am Kaunertaler Gletscher fünf Tage nach meiner Entlassung auf der Piste, hatte mir die Skischuhe selbst angebunden und fragte mich, wie man denn jetzt genau Ski fährt. Ich habe es dann doch ohne Probleme hinbekommen. Und nach zwei Tagen ging ich zum Trainer und sagte ihm, dass ich wieder am Weltcup teilnehmen wollte. Das war im Nachhinein ein Fehler. 

Wieso?
Ich hätte sagen sollen, dass ich wieder gewinnen will – nicht nur Weltcup fahren. Man suggerierte mir in der Folge, dass das nicht gehe und dass ich auf mich achten müsse. Es entstand eine Situation, die ich oft in meinem Leben mitbekommen habe – nämlich, dass andere glaubten, entscheiden zu können, was gut und möglich für mich ist und wo meine Grenzen liegen. 

Selbst als ich in Beaver Creek den respektablen 21. Platz einfuhr, wollte man mich bremsen und es hieß, ich solle Vorsicht walten lassen und alles verarbeiten. Ich konnte das nicht verstehen und ärgere mich bis heute, dass ich damals nachgegeben habe. Irgendwann glaubte ich tatsächlich, ich könne mich selbst nicht mehr richtig einschätzen. Das war ein großer Fehler. Aus heutiger Sicht hätte ich fahren müssen. Ich weiß, wie mein Körper funktioniert: Wenn er das Gefühl hat, dass etwas mit Lockerheit und Spaß gemacht wird, dann wird es erfolgreich sein, egal wie unrealistisch es klingen mag – das ist auch die Lehre von den Vorträgen, die ich mittlerweile halte. 

Sie halten Vorträge, in denen Sie Ihre Geschichte erzählen?
Genau. Ich glaube, dass jeder aus dem Trauma eine Lehre für sich ziehen kann. Was mir aber selbst besonders am Herzen liegt, ist, dass die Menschen an sich glauben. Die Quintessenz aus meiner Geschichte ist im Grunde: „Never give up“ – von 100 auf null und wieder zurück. 

Wollten Sie je wieder in Kitzbühel fahren?
Und wie! Ich hab mir sogar nach meinem Rücktritt überlegt, zu Red Bull zu gehen und zu fragen, ob sie mir einen Startplatz organisieren könnten, damit ich noch das Rennen gewinne. Ich hatte den Mut dann aber doch nicht. Vielleicht fehlte mir nach den Kämpfen, die ich zuvor führen musste, auch die Energie dazu. 

Ich kann rückblickend wirklich mehr als zufrieden sein. Denn ich habe mehr erreicht, als ich je erwarten konnte. Nach einem schweren Schädel-Hirn-Trauma muss ich mit keinen größeren Beeinträchtigungen leben. Das ist sehr wichtig. Und ich glaube, dass sich viele aus meiner Geschichte einen kleinen Teil herausnehmen können und ich so anderen helfen kann. Das ist eine Riesensache. 

Vielen Dank für das Gespräch.

Foto: Rob Lewis, Leonhard Föger / Reuters / picturedesk.com, GEPA pictures / Josef Bollwein